Montag, 22. August 2022

"Dann geht Jesus weg"

Kontext:

  • Christof May war Regens des Priesterseminars in Limburg.
  • Gegen ihn wurden Anklagen erhoben.
  • Bischof Bätzing befreite ihn von Dienst bis zur Klärung der Vorwürfe.
  • Tags darauf wurde Christof May tot aufgefunden.


„Dann geht Jesus weg“.

Nachdenkliches zu einem Nachruf

Pater Dr. Willibrord Driever OSB, St. Ottilien - Rom

So lautet die Überschrift eines Beitrags von Pfarrer Felix Evers zum Tod des Limburger Regens Christof May (Christ in der Gegenwart 25/2022). Diese Überschrift ist ein Zitat aus dessen Predigt, die er am 30. Januar 2022 gehalten hat. „Dann geht Jesus weg“ – dieser Satz erinnerte mich an die Perikope Lukas 4,16-30. Jesus ging weg (V. 30, wie es in der Einheitsübersetzung heißt), weil die Zuhörer in der Synagoge von Nazareth seine Botschaft ablehnten und ihn töten wollten. Diese Perikope mag eine von Lukas im Stil hellenistischer Geschichtsschreibung dramatisch aufgebaute Erzählung sein, und die Übersetzung „er wanderte weiter“ mag die theologisch zutreffendere Beschreibung sein für den Weg Jesu von Galiläa nach Jerusalem und für seinen heilsgeschichtlichen Lebenslauf; aber belassen wir es einmal bei dem Weggehen Jesu. Also „… dann geht Jesus weg“ – dieser Satz hat mich getroffen, er arbeitete in mir, und ich begann, darüber nachzudenken. Wann geht Jesus weg? Der Verstorbene hat die Antwort gegeben: „Wenn seine Wahrheit nur gelehrt, aber nicht gelebt wird, dann geht Jesus weg.“

Für den Hörer oder Leser ist dieser Satz eine unbewiesene Behauptung. Was ist dieser Satz für den Sprecher? Darf ich darüber nachdenken, „mit Furcht und Zittern“? Hier können wir nur vermuten: verdichtete Erfahrung? Ausdruck einer Entscheidung, einer Überzeugung aufgrund von Erfahrung? Ein Lebensmotto, eine Richtungsweisung für Lebensgestaltung? Ein überzogener Anspruch?

Stimmt diese Behauptung? Geht Jeshua, der Zeuge Jahwes, geht er weg? Haben wir nicht von Erich Zenger erfahren, dass Jahwe bei uns da sein will als welcher er bei uns da sein will: zuverlässig (wenn wir ihn not-wendend brauchen), unverfügbar (wenn er uns stört, wenn wir ihn nicht bei uns haben wollen), ausschließlich (nur ER, keine anderen „Götter“) und unbegrenzt?

Stimmt diese Behauptung? Geht Jesus wirklich weg, wenn wir „seine Wahrheit“ nur lehren, aber nicht mehr leben? Verlässt er uns? Ich vermute: mit „Wahrheit lehren“ ist die gesamte Lebensäußerung der Verkündigung, der Martyria der Kirche gemeint. Wessen Verkündigung von all denen, die zu dieser mit dem Ordo verbundenen amtlichen Verkündigung sakramental beauftragt und gesandt sind, befindet sich in hundertprozentiger Übereinstimmung mit der persönlichen Lebenspraxis? Wenn es eine hundertprozentige Übereinstimmung gibt, dann haben wir es nicht nötig umzukehren (vgl. Lk 15,7) und brauchen auch keine Barmherzigkeit. Es bleibt wohl immer diese Differenz. Wie gehen wir damit um? Ich sehe drei Möglichkeiten.

Die erste Möglichkeit: Ich bleibe auf dem Weg der realistischen Anerkennung meiner Selbst, ich  anerkenne meine bleibende menschliche Armseligkeit, Gebrochenheit, Zerbrochenheit, Verletzlichkeit, Versuchbarkeit, Sündhaftigkeit: „HERR, sei mir gnädig! Heile mich, denn ich habe gegen dich gesündigt“ (Ps 41,5). Ich bleibe auf dem Weg der permanenten Bekehrung und Umkehr: „Ich bin verirrt wie ein verlorenes Schaft. Suche deinen Knecht“ (Ps 119,176). Ich bleibe auf dem Weg der menschlichen und geistlichen Entwicklung und Reifung. Ich bleibe auf dem Weg der Transzendierung meiner Selbst in Richtung der Werte des Evangeliums und der Nachfolge Jesu. Auf diesem Weg erkenne ich immer mehr und immer tiefer das Geschenkt, welches Gott mir in der Priesterweihe anvertraut und zugemutet hat.

Die zweite Möglichkeit: Ich reduziere meine Verkündigung der Wahrheit Jesu auf mein moralisches Niveau, auf das Niveau dessen, was ich mit meinem mehr oder weniger armseligen Leben abdecke. Dann bleibe ich vielen vieles schuldig. Und dafür werde ich eines Tages, am Ende meiner Tage, zur Rechenschaft gezogen.

Die dritte Möglichkeit: Wenn mein Leben nicht mit meiner Verkündigung  übereinstimmt, wenn ich mir schwere Schuld aufgeladen habe und wenn ich dann noch zutiefst davon überzeugt bin, dass infolge all dessen „Jesus weggeht“, dann bleibt eigentlich nur die Verzweiflung, - nein: denn es bleibt immer noch die Barmherzigkeit Gottes. Der heilige Benedikt hat es in seiner Regel wunderbar auf eine Formel gebracht: Et de dei misericordia numquam desperare – Und an Gottes Barmherzigkeit niemals verzweifeln (RB 4,74). Dieser Tip gilt nicht nur für Benediktiner.

Mein Glaube: Jesus geht NIEMALS weg wegen unserer schäbigen Mittelmäßigkeit. Er hat keine anderen als uns erbsündlich gebrochenen Menschen, die er berufen und senden könnte. Es gibt dieses Paradox: ja, er ist von unserer Mittelmäßigkeit angewidert, und gleichzeitig ist sie attraktiv für ihn, er ist angezogen von unserer Erbärmlichkeit, um sich unser zu erbarmen; denn er ist die menschgewordenen Barmherzigkeit des barmherzigen Vaters (vgl. Lk 15), und er bleibt bei uns bis zum Ende der Welt (vgl. Mt 28,20).

Was mir, im Gegensatz zum Autor, nicht „glasklar“ ist: warum spätestens jetzt „die Uhren in der deutschen Kirche angehalten werden“ müssen. Das ist mir wohl deswegen nicht klar, weil mir die Botschaft dieser idiomatischen Redeweise unbekannt ist. Ich versuche zu verstehen: Ich kann zwar die Uhren anhalten, aber nicht die Zeit. Sollte damit gemeint sein, dass alles zum Stillstand kommen und eine neue Zeitrechnung beginnen solle? Der Autor schreibt von Pistis und meint damit das gegenseitige personale Urvertrauen. Wem schenke ich mein Urvertrauen? Ich schenke mein Urvertrauen dem und nur dem, der mir zuerst sein Urvertrauen geschenkt und niemals zurückgenommen hat: meinem Herrn, meinem Schöpfer und Erlöser, der mir mein Vertrauen ermöglicht. Wir haben am 29. Juni das Hochfest der Apostel Petrus und Paulus gefeiert; der eine war ein fanatischer Christenverfolger und wollte die Kirche vernichten (vgl. Gal 1,13), der andere hat den verleugnet, für den er vorgab, sterben zu wollen. Beiden hatte der Herr sein Vertrauen geschenkt und niemals entzogen. Der Fels, den - nach den Worten Jesu - die Mächte der Unterwelt nicht überwältigen können (vgl. Mt 16,18) und auf den der Autor offensichtlich anspielt, kann nicht implodieren. Was ist es dann, was sich „von innen her in seine Einzelteile zerlegt“ und „täglich und stündlich“ implodiert? Implodieren kann doch nur das Konstrukt meines irrigen und fehlgeleiteten Vertrauens. Wenn ich dem Papst, den Bischöfen und den Priestern und in diesem Sinne der „Kirche“ mein (Ur-)Vertrauen schenke, dann werde ich täglich und stündlich von den Splittern des implodierenden Felsens verletzt. „Besser, sich zu bergen beim Herrn, als zu vertrauen auf Menschen und auf (Kirchen-) Fürsten“ (vgl. Ps 118,8.9). Sollte das der „deutsche Kirchenfelsen“ gewesen sein? Dann würde jetzt unser irriges Vertrauen implodieren. Dann wäre der Weg frei zu dem, der Worte des Lebens hat (vgl. Joh 6,68). Dann wäre ein Neuanfang möglich. Dann hätte der Herr „die Uhren angehalten“ für eine neue Zeit.

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