Kontext:
- Christof May war Regens des Priesterseminars in Limburg.
- Gegen ihn wurden Anklagen erhoben.
- Bischof Bätzing befreite ihn von Dienst bis zur Klärung der Vorwürfe.
- Tags darauf wurde Christof May tot aufgefunden.
„Dann geht Jesus weg“.
Nachdenkliches zu einem Nachruf
Pater Dr. Willibrord Driever OSB, St. Ottilien - Rom
So lautet die Überschrift eines
Beitrags von Pfarrer Felix Evers zum Tod des Limburger Regens Christof May
(Christ in der Gegenwart 25/2022). Diese Überschrift ist ein Zitat aus dessen
Predigt, die er am 30. Januar 2022 gehalten hat. „Dann geht Jesus weg“ – dieser
Satz erinnerte mich an die Perikope Lukas 4,16-30. Jesus ging weg (V. 30, wie
es in der Einheitsübersetzung heißt), weil die Zuhörer in der Synagoge von
Nazareth seine Botschaft ablehnten und ihn töten wollten. Diese Perikope mag
eine von Lukas im Stil hellenistischer Geschichtsschreibung dramatisch
aufgebaute Erzählung sein, und die Übersetzung „er wanderte weiter“ mag die
theologisch zutreffendere Beschreibung sein für den Weg Jesu von Galiläa nach
Jerusalem und für seinen heilsgeschichtlichen Lebenslauf; aber belassen wir es
einmal bei dem Weggehen Jesu. Also „… dann geht Jesus weg“ – dieser Satz hat
mich getroffen, er arbeitete in mir, und ich begann, darüber nachzudenken. Wann
geht Jesus weg? Der Verstorbene hat die Antwort gegeben: „Wenn seine Wahrheit
nur gelehrt, aber nicht gelebt wird, dann geht Jesus weg.“
Für den Hörer oder Leser ist
dieser Satz eine unbewiesene Behauptung. Was ist dieser Satz für den Sprecher? Darf
ich darüber nachdenken, „mit Furcht und Zittern“? Hier können wir nur vermuten:
verdichtete Erfahrung? Ausdruck einer Entscheidung, einer Überzeugung aufgrund von
Erfahrung? Ein Lebensmotto, eine Richtungsweisung für Lebensgestaltung? Ein
überzogener Anspruch?
Stimmt diese Behauptung? Geht
Jeshua, der Zeuge Jahwes, geht er weg? Haben wir nicht von Erich Zenger
erfahren, dass Jahwe bei uns da sein will als welcher er bei uns da sein will:
zuverlässig (wenn wir ihn not-wendend brauchen), unverfügbar (wenn er uns
stört, wenn wir ihn nicht bei uns haben wollen), ausschließlich (nur ER, keine
anderen „Götter“) und unbegrenzt?
Stimmt diese Behauptung? Geht
Jesus wirklich weg, wenn wir „seine Wahrheit“ nur lehren, aber nicht mehr
leben? Verlässt er uns? Ich vermute: mit „Wahrheit lehren“ ist die gesamte
Lebensäußerung der Verkündigung, der Martyria
der Kirche gemeint. Wessen Verkündigung von all denen, die zu dieser mit dem Ordo verbundenen amtlichen Verkündigung
sakramental beauftragt und gesandt sind, befindet sich in hundertprozentiger
Übereinstimmung mit der persönlichen Lebenspraxis? Wenn es eine
hundertprozentige Übereinstimmung gibt, dann haben wir es nicht nötig
umzukehren (vgl. Lk 15,7) und brauchen auch keine Barmherzigkeit. Es bleibt
wohl immer diese Differenz. Wie gehen wir damit um? Ich sehe drei Möglichkeiten.
Die erste Möglichkeit: Ich
bleibe auf dem Weg der realistischen Anerkennung meiner Selbst, ich anerkenne meine bleibende menschliche
Armseligkeit, Gebrochenheit, Zerbrochenheit, Verletzlichkeit, Versuchbarkeit,
Sündhaftigkeit: „HERR, sei mir gnädig! Heile mich, denn ich habe gegen dich
gesündigt“ (Ps 41,5). Ich bleibe auf dem Weg der permanenten Bekehrung und
Umkehr: „Ich bin verirrt wie ein verlorenes Schaft. Suche deinen Knecht“ (Ps
119,176). Ich bleibe auf dem Weg der menschlichen und geistlichen Entwicklung
und Reifung. Ich bleibe auf dem Weg der Transzendierung meiner Selbst in
Richtung der Werte des Evangeliums und der Nachfolge Jesu. Auf diesem Weg erkenne
ich immer mehr und immer tiefer das Geschenkt, welches Gott mir in der
Priesterweihe anvertraut und zugemutet hat.
Die zweite Möglichkeit: Ich
reduziere meine Verkündigung der Wahrheit Jesu auf mein moralisches Niveau, auf
das Niveau dessen, was ich mit meinem mehr oder weniger armseligen Leben
abdecke. Dann bleibe ich vielen vieles schuldig. Und dafür werde ich eines
Tages, am Ende meiner Tage, zur Rechenschaft gezogen.
Die dritte Möglichkeit: Wenn
mein Leben nicht mit meiner Verkündigung
übereinstimmt, wenn ich mir schwere Schuld aufgeladen habe und wenn ich
dann noch zutiefst davon überzeugt bin, dass infolge all dessen „Jesus weggeht“,
dann bleibt eigentlich nur die Verzweiflung, - nein: denn es bleibt immer noch
die Barmherzigkeit Gottes. Der heilige Benedikt hat es in seiner Regel
wunderbar auf eine Formel gebracht: Et de
dei misericordia numquam desperare – Und an Gottes Barmherzigkeit niemals
verzweifeln (RB 4,74). Dieser Tip gilt nicht nur für Benediktiner.
Mein Glaube: Jesus geht NIEMALS
weg wegen unserer schäbigen Mittelmäßigkeit. Er hat keine anderen als uns
erbsündlich gebrochenen Menschen, die er berufen und senden könnte. Es gibt
dieses Paradox: ja, er ist von unserer Mittelmäßigkeit angewidert, und
gleichzeitig ist sie attraktiv für ihn, er ist angezogen von unserer
Erbärmlichkeit, um sich unser zu erbarmen; denn er ist die menschgewordenen
Barmherzigkeit des barmherzigen Vaters (vgl. Lk 15), und er bleibt bei uns bis
zum Ende der Welt (vgl. Mt 28,20).
Was mir, im Gegensatz zum
Autor, nicht „glasklar“ ist: warum spätestens jetzt „die Uhren in der deutschen
Kirche angehalten werden“ müssen. Das ist mir wohl deswegen nicht klar, weil
mir die Botschaft dieser idiomatischen Redeweise unbekannt ist. Ich versuche zu
verstehen: Ich kann zwar die Uhren anhalten, aber nicht die Zeit. Sollte damit
gemeint sein, dass alles zum Stillstand kommen und eine neue Zeitrechnung
beginnen solle? Der Autor schreibt von Pistis
und meint damit das gegenseitige personale Urvertrauen. Wem schenke ich mein
Urvertrauen? Ich schenke mein Urvertrauen dem und nur dem, der mir zuerst sein
Urvertrauen geschenkt und niemals zurückgenommen hat: meinem Herrn, meinem
Schöpfer und Erlöser, der mir mein Vertrauen ermöglicht. Wir haben am 29. Juni
das Hochfest der Apostel Petrus und Paulus gefeiert; der eine war ein
fanatischer Christenverfolger und wollte die Kirche vernichten (vgl. Gal 1,13),
der andere hat den verleugnet, für den er vorgab, sterben zu wollen. Beiden
hatte der Herr sein Vertrauen geschenkt und niemals entzogen. Der Fels, den -
nach den Worten Jesu - die Mächte der Unterwelt nicht überwältigen können (vgl.
Mt 16,18) und auf den der Autor offensichtlich anspielt, kann nicht
implodieren. Was ist es dann, was sich „von innen her in seine Einzelteile
zerlegt“ und „täglich und stündlich“ implodiert? Implodieren kann doch nur das
Konstrukt meines irrigen und fehlgeleiteten Vertrauens. Wenn ich dem Papst, den
Bischöfen und den Priestern und in diesem Sinne der „Kirche“ mein
(Ur-)Vertrauen schenke, dann werde ich täglich und stündlich von den Splittern
des implodierenden Felsens verletzt. „Besser, sich zu bergen beim Herrn, als zu
vertrauen auf Menschen und auf (Kirchen-) Fürsten“ (vgl. Ps 118,8.9). Sollte
das der „deutsche Kirchenfelsen“ gewesen sein? Dann würde jetzt unser irriges
Vertrauen implodieren. Dann wäre der Weg frei zu dem, der Worte des Lebens hat
(vgl. Joh 6,68). Dann wäre ein Neuanfang möglich. Dann hätte der Herr „die
Uhren angehalten“ für eine neue Zeit.
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